Beitrag in: KommJur 11/2022, S. 405 ff. "Live-Streaming von Ratssitzungen als Verfassungsgebot (Teil 2)"

Fazit: “„Man muss ja nicht gleich die Krise der Demokratie ausrufen, trotzdem knirscht es gerade zwischen Politik und Bürgern“.[1] Interesse und Begeisterung für die kommunale Selbstverwaltung schwindet. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung sank die Demokratie-Zufriedenheit in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren von 61 auf 42 Prozent.[2] Aber auch die Motivation zur Übernahme von Ehrenämtern in den Kommunen sinkt. Das gilt nicht nur für Mitglieder der Vertretungen, sondern insbesondere auch für ehrenamtliche Bürgermeister. 70 Prozent aller Bürgermeister in Deutschland sind ehrenamtliche Bürgermeister, das sind fast 8.000 Menschen. Viele von ihnen sind im Rentenalter und finden keine Nachfolger.[3]

Das sind keine Momentaufnahmen, sondern bedrohliche Entwicklungen, die sich auch in unzureichender Wahlbeteiligung in den Städten und Gemeinden ablesen lässt.

Die Partizipationskrise ist allerdings z. T. hausgemacht. Informations- und Teilhabeprozesse werden auf lokaler Ebene nicht dynamisch organisiert. Die Transformation von Öffentlichkeit blieb im Hinblick auf deren Herstellung unbeachtet.  Die Sicherstellungsgebote haben gerade keinen Transformationsprozess durchlaufen. Zwar ist die Öffentlichkeit kommunaler Gremiensitzungen verfassungskräftig verbürgt, doch gehen Landesgesetzgeber und Vertretungen offenkundig vielerorts davon aus, dass die Öffentlichkeit des Jahres 2022 immer noch die Öffentlichkeit des Jahres 1950 darstellt. Es mutet bei den vorhandenen technischen Möglichkeiten schon ein wenig seltsam an, dass sich Gerichte immer noch mit der rechtmäßigen Vergabe von Zuschauerplätzen, den Kapazitäten von Sitzungsräumen und den Sitzungszeiten außerhalb von regelmäßigen Arbeitszeiten beschäftigen müssen.[4]

Auch auf eine veränderte Medienlandschaft haben die Gesetzgeber keine Antworten gegeben. Es bleibt unberücksichtigt, dass über Sitzungen der kommunalen Vertretung in vielen Gemeinden nicht mehr berichtet wird. Aus „news-deserts“ sind „participation deserts“ entstanden.  An vielen Stellen ist bereits sichtbar, dass aus der Partizipationskrise die Legitimations- und Repräsentationskrise folgt. Ganze Altersgruppen und Milieus werden von Teilhabe und Information ausgeschlossen. Sie werden nicht erreicht, obwohl es hinreichend (technische) Möglichkeiten gibt, diese Menschen für die lokale Demokratien nicht zu verlieren.

Es bleibt unverständlich, warum die Kommunalpolitik vielerorts nicht viel dynamischer danach sucht, digitale Teilhabeprozesse auch für netzaffine und in der digitalen Gesellschaft angekommene Bürger zu organisieren. Es kann nur damit erklärt werden, dass vielerorts die Zusammensetzungen der Vertretungen im Hinblick auf Milieus und Altersgruppen kein Abbild der Gesellschaft darstellen. Auch hier bedeutet die COVID-19-Krise aber auch Chance und Gelegenheit. Es ist für die Digitalisierung kommunaler Gremienarbeit, für Hybridsitzungen und Live-Streaming Akzeptanz in den kommunalen Gremien entstanden. Diese gilt es zu nutzen.

Die dauerhafte Implementierung von Hybridsitzungen kommunaler Gremien beweist, dass Attraktivität des Ehrenamts in kommunalen Vertretungen nur durch Veränderungs- und Digitalisierungsprozesse erhalten werden kann. Unbegründet bleibt, warum nicht für Bürger in gleicher Weise Zeit- und Kostenaufwand reduziert wird, um an kommunalen Rats- und Ausschusssitzungen teilhaben zu können.

Die verfassungsrechtlichen Fundamente des Öffentlichkeitsgrundsatzes tragen nur dann, wenn die Öffentlichkeit auch durch Live-Streaming der kommunalen Gremiensitzungen erreicht wird. Das Internet und die Digitalisierung der Gesellschaft haben unser Leben und unsere Demokratie verändert. Es ist wünschenswert und verfassungsrechtlich geboten, dass diese Tatsachen endlich auch in den Kommunen Berücksichtigung finden. Durch die Veränderungen der Öffentlichkeit werden auch in Zukunft weitere Anpassungspflichten für die Gesetz- und Satzungsgeber entstehen.”


Oliver Junk