Interview Volksstimme (02.05.2024): "Die Stadt ist die Keimzelle der Demokratie"

Auszüge aus dem Interview mit der Volksstimme zur Kommunalwahl am 09. Juni in Sachsen-Anhalt:

Magdeburg. In Sachsen-Anhalt werden am 9. Juni die Kommunalparlamente gewählt.  Warum diese Wahl nicht weniger wichtig ist als die Bundestagswahl und was man über Kommunalpolitik wissen sollte, darüber spricht mit der Volksstimme Oliver Junk, Professor an der Hochschule, jahrelang selbst Stadtrat und Oberbürgermeister. Das Gespräch führte Redakteurin Petra Waschescio

 

Herr Prof. Junk, am 9. Juni werden in Sachsen-Anhalt die kommunalen Parlamente gewählt. In einer Zeit, in der die Bevölkerung unzufrieden mit der Politik ist und frustriert über Entscheidungen, die viele Menschen nicht nachvollziehen können. Hinzu kommt, dass die Aufgaben, die mit Klimawandel, Migration und Krieg in Europa vor uns liegen, für den Einzelnen kaum lösbar erscheinen. Lohnt es da überhaupt, sich um die Politik vor der eigenen Haustür zu kümmern?

 

Prof. Oliver Junk:  Wir haben uns sehr bewusst in Deutschland für eine repräsentative Demokratie entschieden. Genau deshalb, damit wir all die komplexen Themen, ob wir nun einen Leopard-Panzer liefern oder nicht, ob wir Geld und Lebensmittel in den Gazastreifen schicken sollen, nicht durchdenken müssen.  Das überlassen wir den Menschen, die wir dafür wählen.

Deshalb sehe ich das Problem heute weniger in einer Unzufriedenheit. Der Kern des Problems ist der Vertrauensverlust. Der Vertrauensverlust in die Menschen, die wir gewählt haben. Und ich möchte weitergehen, der Vertrauensverlust in unsere Demokratie. Wir sind in einer echten Demokratiekrise. Und genau hier kommt das Thema Kommune ins Spiel.

 

Was kann die Kommune für die Demokratie tun?

Wir spüren, dass der Vertrauensverlust auch die kommunale Ebene erreicht hat. Aber genau hier, in der Kommune, sind Politiker auch sehr schnell und zuvorderst in der Lage, tatsächlich dieses Vertrauen wiederherzustellen, weil die Wähler die Menschen, die sie in einen Stadtrat oder Gemeinderat, zum Bürgermeister, zum Ortsbürgermeister oder zum Landrat wählen,  unmittelbar erleben können. Und die beweisen, dass sie die Themen vor Ort exzellent lösen können.

Denn ohne Kommunen wären wir nicht durch die Corona-Zeit gekommen, die Kommunen haben das bewerkstelligt. Ohne die Kommunen hätten wir die sogenannte Flüchtlingskrise 2015/16 nicht bewältigt, ohne die Kommunen würden wir heute die geflüchteten Menschen aus der Ukraine nicht integrieren.

In der Nähe zu den Wählern liegt aber nicht nur die Chance für die kommunale Ebene, sondern auch die Pflicht. Die Kommune ist Keimzelle der Demokratie. Sie ist der Lernort der Demokratie.

 

Können Sie das an einem Beispiel deutlich machen?

Es ist wichtig, dass die Menschen in der Kommune mit jedem kleinen Thema – das ist der fehlende Mülleimer an der Bushaltestelle, das Schlagloch, die grüne  Bedachung eines alten Feuerwehrgebäudes – einfach mit einer Idee, einem Gedanken sehr nah an die Verantwortungsträger in einem Rathaus herankommen. 

 

Das hört man oft anders: Die da oben hören ja doch nicht zu. Was antworten Sie diesen Skeptikern?

 Das wird oft einfach nur behauptet, obwohl der Bürgermeister, die Bürgermeisterin dauernd Sprechstunden anbieten, in die keiner geht. Ich selbst habe als Oberbürgermeister in Goslar Telefonsprechstunden und Videochats über Instagram angeboten. Ein bisschen Aktivität braucht es aber auch von den Menschen, die immer alles kritisieren.  Deshalb lade ich dazu ein,  es einfach mal zu probieren, eine Idee in den Stadtrat einzubringen.

Allerdings müssen die Verantwortungsträger darauf dann auch reagieren.  In meiner Bürgersprechstunde war immer klar, jeder bekommt für sein Anliegen eine Antwort mit einer sauberen Begründung aus der Verwaltung, auch wenn ich nicht helfen kann. Das gerät oft zu kurz, und da entsteht Frust.

 

 Stichwort Kommunalpolitik als Lernort der Demokratie: Bei vielen jungen Leuten scheint das nicht so richtig angekommen zu sein.  In den Stadt- und Gemeinderäten sitzen sehr wenige junge Menschen. Woran liegt das?

 

Wir sind leider konfrontiert mit einer Situation, dass Menschen in der sogenannten Rushhour des Lebens, nicht in der Lage sind, Verantwortung für die Kommune zu übernehmen. Dadurch haben wir ein Übergewicht an Menschen in der Kommunalpolitik, die nicht mehr beruflich eingespannt sind, die keine kleinen Kinder morgens in die Kita oder in die Schule bringen müssen. 

 

Oder fehlt das Interesse der jungen Leute?

Ich finde, dass die jungen Leute uns durchaus bewiesen haben, dass sie sich für politische Themen interessieren. Was uns nicht gelingt, ist, aus dem politischen Interesse die Möglichkeit abzuleiten, sich auch tatsächlich politisch einzubringen.

Wir wehren uns in Deutschland massiv dagegen, auf kommunaler Ebene das Wahlrecht auf 14 Jahre abzusenken. Wir schließen also eine politische, interessierte Jugend von Themen aus und sagen, lass das mal den Papa machen, obwohl das die Menschen sind, die zu den Klimathemen, zu Verkehrsthemen, zu den Themen Schulen, Kindergärten, Fahrradwege ganz andere Einstellungen haben.

Es muss uns jetzt gelingen, neue Wege zu ergründen, wie wir die jungen Menschen einbeziehen können. Das Abschieben von jungen Menschen in Jugendparlamente ist was von vorgestern. Die brauchen Sie an den Tischen der Entscheidungen.

 

Und was kann man dafür tun?

 Das Problem ist, dass die kommunalpolitischen Prozesse sehr stark von Parteien dominiert sind. Und von Parteifunktionären, die ein Eigeninteresse daran haben, genau das zu bleiben, was sie sind - ehrenamtlicher Bürgermeister, Ortsbürgermeister, Fraktionsvorsitzender, Verwaltungsratsmitglied in der Sparkasse und dergleichen. Die haben gar kein Interesse, dass eine 25-Jährige oder ein 25-Jähriger einen Gemeinderat mal aufmischt.

 Ich möchte nicht, dass interessierte Menschen sich zwingend einer politischen Jugendorganisation oder Partei anschließen müssen, um Verantwortung in einer Kommune zu übernehmen. Die Idee unserer Demokratie ist eine andere.  Der Wettbewerb um die beste Idee muss im Vordergrund stehen. Wir sollten die Parteilogos vielleicht ein bisschen kleiner schreiben.

 

 Können die Schule und Elternhäuser mehr tun, was Demokratieverständnis, Kenntnis über demokratische Strukturen und Abläufe angeht?

 Ich habe das Gefühl, dass sich Bürgermeister und Stadtratsmitglieder gerne mit genau dieser Forderung:  „Da müssen doch die Elternhäuser mehr machen, da müssten die Schulen doch mal mehr machen“ einer Verantwortung entziehen, die sie selbst haben. Denn Öffentlichkeitsherstellung in den Kommunen, also, die Prozesse in der Kommunalpolitik auch transparent zu machen, ist die Aufgabe von Stadtrat und Verwaltung. Sie müssen zur Mitarbeit einladen. Das aber ist mehr als informieren. Das machen Kommunen an vielen Stellen nur unzulänglich.

 

Was müssen die Kommunen besser machen?

Es gibt viele Wege, auf Menschen, und damit meine ich alle Altersgruppen und alle Milieus, zuzugehen. Es gibt analoge Wege, es gibt digitale Wege. Es gibt klassische Bürgerversammlungen und es gibt Werkstattprozesse. Dafür braucht es mehr Konzentration, mehr Personal in den Kommunen, das sich genau mit diesen Prozessen beschäftigt und nicht den Wink, das soll Schule, soll das Elternhaus mal machen. Zur Ehrenrettung von Bürgermeistern in der Verwaltung muss man allerdings sagen, dass ihnen das knappe Budget enge Grenzen setzt. Dennoch gehört das Thema viel stärker in das Zentrum der Rathäuser gerückt: Wie schaffe ich mehr Beteiligung an Kommunalpolitik, wie schaffe ich mehr Interesse.

 

Und wie schafft man das Interesse, gerade bei den jungen Leuten?

Die Antwort auf die Frage, wofür interessiert sich die Jugend, ist doch nicht nur die Skateranlage. Das geht in alle Bereiche. Der Stadtrat muss versuchen klarzumachen, was bedeutet die neue Stadthalle für Jugendliche, was bedeutet die autofreie Innenstadt für Jugendliche. Da muss man mehr machen, gerade auch digital.  Ein Kommunalpolitiker kann heute nicht immer nur sagen, kommt zu der Stadtratssitzung einmal im Monat, das ist total spannend, was wir da erzählen. Wer als junger Mensch einmal aus Versehen in eine Stadtratssitzung geraten ist und länger als 30 Minuten geblieben ist, dem mache ich nicht unbedingt Appetit auf Verantwortungsübernahme in einer Gemeinde.

 

Sehen Sie eine Chance, dass aus den aktuellen Protesten gegen die AfD Impulse entstehen, dass die Menschen sich wieder aktiver beteiligen?

Ich glaube, dass wir in einer spannenden Demokratiephase leben. Die bequeme Mitte, die abends auf dem Sofa sitzt, überhaupt nichts mit der AfD anfangen kann und sich eher wundert, wo immer diese ganzen Leute herkommen, die AfD wählen, die ist jetzt aktiv geworden. Die sagt, jetzt ist aber Schluss, das können wir nicht zulassen. Ich hoffe, es gelingt, dass Menschen aus diesem Impuls wieder ein Stück Verantwortung   übernehmen für Vereinsarbeit oder  im Gemeinderat, dass sie  sagen: ,Okay, wenn kein anderer den Ortsbürgermeister, die Ortsbürgermeisterin macht, dann mach ich das jetzt. Wir können es doch nicht den anderen überlassen. Das ist vielleicht genauso wichtig wie mein Fitness-Club, in dem ich dreimal in der Woche von 18 bis 20 Uhr bin’. 

Und ich hoffe, dass die, die das Vertrauen der Wähler verloren haben, es jetzt nicht vergeigen, sondern tatsächlich die Chance nutzen, dass ihnen viele Menschen wieder das Vertrauen schenken wollen. Aber sie müssen das jetzt  auch  rechtfertigen. Sie müssen jetzt auf jeder politischen Ebene ein Stück zusammenrücken und anders miteinander umgehen. Es sind nicht nur Bürger, die unverschämte Leserbriefe schreiben oder bei Facebook Mist abladen. Auch ein Kommunalpolitiker sollte in Selbstreflexion gehen, bevor er anprangert, was der andere wieder falsch gemacht haben.

 

Sie selbst waren jahrelang aktiv in der Kommunalpolitik. Hat es sich gelohnt?

 Alles, was ich gelernt habe und was ich heute bin, damit meine ich auch ein erfolgreiches Jurastudium, hat viel damit zu tun, dass ich mich kommunalpolitisch engagiert habe. Ich habe dabei ungeheuer viel gelernt, nicht nur fachlich, sondern auch im Sinne einer Persönlichkeitsreifung. In einem Stadtrat stehen und vor anderen Menschen sprechen, sich in ein Thema einzuarbeiten, diese Vielfalt von Themen überhaupt mitzubekommen, zu verstehen, dass der Bau eines Kindergartens gar nicht so einfach ist wie der Bau eines Sandkastens im eigenen Garten – diese Übernahme von Verantwortung gibt so viel zurück. Auch das ist ein Aspekt, den man stärker in den Vordergrund rücken sollte: Mach da mit. Auch du selbst hast was davon. Parteien stellen jetzt ihre Listen für die Wahlen auf, laden ein, und alle sagen wieder, ich hab keinen Bock oder keine Zeit. Das ist schade. Die richtige Antwort müsste ja ohnehin lauten, ich nehme mir keine Zeit dafür. Darüber sollte man jetzt ein bisschen stärker nachdenken.

 

 

Oliver Junk